Martin Hudelmaier. Lebensbilder.
Eine Einführung zum Werk von Martin Hudelmaier
—Werner Meyer, Herbst 2009

Mit den Werken von Martin Hudelmaier (1949 – 1982) erinnern wir uns an einen eigenwilligen Künstler. In zwei Phasen entwickelt er sein Werk. In den 1960er und frühen 1970er Jahren bestimmt eine abstrakt gestische Malerei seine Bilder, in Farbe und Duktus emotional aufgeladene Pinselstriche, durchsetzt mit figurativen Kürzeln und Zeichen, manchmal mit Körperspuren und mit Texten, in denen sich seine Handschrift, die Worte wie die Inhalte mühelos in die ausdruckstarke Bildsprache integrieren. 1972 beginnt mit dem Bild „Der Widder“ eine zweite Werkphase, die er später als „Astro-Art“ bezeichnet und in einem Manifest den Bezug zur Astrologie und zum Horoskop zur grundlegenden Konzeption seiner Kunst erklärt. Nicht der Blick in den Spiegel, sondern das Studium der Sternenkonstellation charakterisiert seine Motive, die Portraits von sich selbst, von für ihn bedeutenden Menschen, besonderer Ereignisse oder Orte. Er verbindet immer komplexer werdende, symbolisch aufgeladene Bilderwelten mit astrologischen Zeichen und konsequent mit Textfeldern, die die Erkenntnisse eines jeweiligen Horoskops als bildimmanentes Interpretationsangebot, als charakterisierende Beschreibung vermitteln.

In dem Bild des gerade 19jährigen Autodidakten „Weinende Frau mit einer sich davonschleichenden Eidechse“ (1968) zeigt sich, wo Martin Hudelmaier seine ersten wesentlichen Impulse gefunden hat: bei Wassily Kandinsky, Paul Klee und bei Joan Miró, das heißt bei einer zeichenhaften Bildsprache, die in dem unendlichen Bildraum einer surrealen Imagination freie Entfaltung ermöglicht. In den folgenden Jahren geht Martin Hudelmaier einen Weg zeitgenössischer Malerei mit, der von dieser Bildsprache in einen gestischen, abstrakten Expressionismus führt. In einer intuitiven Malerei, aus einer subjektiven, unterbewusst empfundenen Befindlichkeit gespeist, führen Gesten zu Spuren des Pinsels, zu Linienbewegungen, Farbräumen, zeichnerischen Formen und Andeutungen von Figuration und Gegenständlichkeit. In dem Bild „Frau flieht durch ein Feld, das von Schlauchwürmern wimmelt, vor dem Menschen, der die Sonne umschreitet“ (11.7.1970) mischen sich Malerei und Zeichnung, Farbe und Linie, gesprühte und mit dem Pinsel verteilte Farbe, Fußabdrücke und die verschiedensten Formen zu einem dichten und zugleich grenzenlosen Bild, das in dem Geviert der Leinwand nur seine physische, nicht seine mentale Grenze hat. Was sich auf der Fläche an Malerei ereignet, eröffnet ein Bild der Vorstellung, der Einbildungskraft, der Phantasie und der Irrealität des Traumes. Noch spürt man den Einfluss von Joan Miró, der sich in den folgenden Bildern verlieren wird zugunsten eines existenziell direkten, abstrakten Expressionismus, wie ihn in den 1960er Jahren auch ein Walter Stöhrer entwickelt hat. Martin Hudelmaier wird in seiner Zeit in Paris vor allem die Einflüsse der Pariser Schule und des Informel aufgenommen und für sich verarbeitet haben. Jedenfalls bewegt er sich, auch ohne Akademiestudium auf der Höhe der zeitgenössischen avantgardistischen Malerei seiner Generation. Das ganze Spektrum seiner Farbigkeit, die die aufgeladene Spannung der Gesten im Malen, der Zeichen und Formen im Zeichnen, und dessen, was die künstlerische Phantasie darin sich erträumen kann, deutet er an in seinen Titeln, die das Bild nicht erklären, sondern ihm noch ein dramatisch-poetisches Geheimnis mitgeben: „Freundliches Hudelmaiermännchen mit Vitalfärbung in einer schönen Landschaft mit Erregungskreis, vor dem die zweite Frau des unkeuschen Speisewagenschaffners Oppressionsgefühle bekommt.“ (1970). Man spürt die Lust, den Humor, die grenzgängerische Begabung des Künstlers, die willkürliche Freiheit des action painting, dem er sich zurechnet, einzufangen und zu zeigen, dass die Bildinterpretation nicht irgendeine Wirklichkeit zeigt, sondern eine Konstruktion aus den Vorstellungsmöglichkeiten ist, die das Bild an Assoziationen auslöst. Gemeint hat er eine Wirklichkeit der Phantasie, in der Zeichen für eine andere, gefühlte Realität stehen. Deshalb kommen sie aus dem Unterbewussten, als unwillkürliche Geste. Er malt vornehmlich mit starken Primärfarben, er scheint von der ursprünglichen Kraft von Kinderzeichnungen und art brut beeindruckt zu sein, von der unmittelbaren Kraft der abstrakten Form und des Gestus, in dem sich Malerei als Aktion und Ereignis manifestiert. „Person, die den Regenbogen feiert“ (1972) ist eines der letzten Bilder dieser Periode. Für Martin Hudelmaier ist mit diesen Bildern eine solche postinformelle Entwicklung erschöpft.

Mit den folgenden Bildern vollzieht er eine Neuorientierung und den Bruch mit der gestisch expressiven Malerei. Mit „Der Widder“ (1972), einem Selbstportrait, beginnt seine ureigene Entwicklung von Horoskop-Bildern, die er später zusammenfassend als „Astro-Art“ bezeichnet. Bereits mit dem ersten Bild ist das emblematische Muster, das Schema, das Konzept der nun folgenden Bilder vorgegeben. Mit Rahmen abgegrenzt fügen sich die Bildebenen: das Bildnis, das eher typologisch als abbildhaft eine Physiognomie zeigt, das Feld des im astrologischen Sinne die Person, später auch Ereignisse oder Orte charakterisierenden, immer handschriftlichen, persönlich verfassten Textes, dazu das Sternzeichen, männlich.

Die Malerei ändert sich fundamental: klar konturierte Formen, monochrome Flächen, musterhafte Reduzierung auf das Wesentliche der Form, die Text-Bild-Kombination, all das orientiert sich an einer volkstümlichen, plakativen, direkten Darstellungsweise. Martin Hudelmaier hat es nicht gestört, als Pop Künstler gesehen zu werden, denn es ging ihm um die populäre Deutungskraft der Astrologie und des Horoskops in Verbindung mit einer lebensnahen und doch symbolischen Darstellung der portraitierten Menschen, der Ereignisse, der Orte, der Landschaften. Ein Portrait konzentriert sich auf das Wesentliche, zeichnet und malt in einer allgemeinen, universellen Bildsprache, die ohne die Codes einer Bildungselite auskommt. Martin Hudelmaier entwickelt das Konzept in Serie („Die zwölf Sternzeichen“, 1973). Eine Konstante in den Massenmedien, vermeintliche Lebenshilfe, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag neu – bei Martin Hudelmaier bekommt diese Form der Interpretation des Schicksals eines jeden Einzelnen und des Weltenlaufs den Charakter von Kunst: Konzentration mittels Abstraktion und Verallgemeinerung, eindrucksvolle Bilder, in denen nichts mehr willkürlich ist, sondern die die Nähe zur Wissenschaft, zur ältesten Wissenschaft der astrologischen Deutung der Welt und der sie belebenden Wesen suchen. Martin Hudelmaier ist in der Lage, ein qualifiziertes Horoskop zu erstellen. Seine Bilder und in ihnen die Texte sind sein künstlerischer Beitrag zu diesem Kosmos der Konstruktion und Deutung der Wahrnehmung von Welt. Dies und sein Bezug zur populären, illustrativen Gebrauchskunst wie Bilderbögen, Spielkarten, zu den Schildermalern Afrikas, zu den Schautafeln der Moritatensänger, zur sogenannten „naiven“ Kunst oder auch zum indischen Tantrismus begründet seinen Anspruch, Kunst und Leben zu verbinden. Wie schon Pablo Picasso und die Moderne hat sich Martin Hudelmaier von der Bilderwelt ethnologischer und ethnographischer Museen inspirieren lassen. Die Publikation solcher Bilderreihen in Form von Kalendern ist eine konsequente Entsprechung. In diesem Sinne hat der Aspekt Pop-Kunst für Martin Hudelmaier ganz andere Quellen und gewinnt eine andere Form im Vergleich zu dem, was aus Amerika kommend als Pop Art seit den 1960er Jahren Furore machte.

Mit den Köpfen beginnt es, große Köpfe, gemalte Büsten, in der Regel im Profil. Dann kommen Attribute hinzu, Seestücke (die Schiffe), Landschaften, astrologische Landschaften entstehen, denn ihre Elemente sind seit Urzeiten tradierte oder auch romantisch visionäre Symbole. Immer wieder findet sich der Regenbogen: „… die Zweiseitigkeit des Lebens, mit der ich in den Bildern gerne jongliere (…), ein Lebenssymbol, ein Hoffnungssymbol (…). In der Hindu-Astrologie bedeutet das jedoch das Gegenteil, das steht der Regenbogen für den Tod, das Lebensende.“ So lassen sich die Palmen als kraftvolle Lebensbäume, das Meer und das Schiff als Leben im Sinne von Reise, von Überfahrt deuten, die Sternschnuppe, die der Künstler sich malt, als kosmisches Zeichen… („Martin Hudelmaier und sein Neptunfaktor“, 1974). Jedes Bild hat seine astrologische Deutung bei sich. So bearbeitet er den Verlust des Vaters und historische Katastrophen, so portraitiert er große Politiker wie Willi Brandt, dessen politisches Friedenswerk gegenüber Osteuropa er in kosmischen Zusammenhängen darstellt, oder auch befreundete Menschen und Sammler. Martin Hudelmaier gibt so jedem seiner Portraits seine eigene und zugleich eine kosmisch begründete Sicht des Menschen oder des Ereignisses. Damit fügt er auch der Gattung Portrait eine ihm eigene Dimension hinzu.

„Kunst eine Hilfe zum Leben“ , das beinhaltet bei Martin Hudelmaier auch die Beschäftigung mit dem Tod. 1978 bemalt er seinen eigenen Sarg. Schlüsselbilder in seinem Werk sind meist Selbstbildnisse, so auch die Bemalung seines Sarges. Schon zuvor sind viele seiner Bildelemente Symbole des Lebens wie auch des Todes. Auf seinem Sarg finden wir einige davon wieder: den Regenbogen, die auf- wie untergehende Sonne, das Meer und die Schiffe; dazu kommen kosmische Zeichen: das Auge, die symbolische Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, der Sternenhimmel. Der Sarg ist das Gefäß, das Symbol, das uralte Bild der Überfahrt von hier nach dort, durch den Kosmos in eine wie auch immer geartete andere Existenz. Der Sarg ist ein Bild, Lebensbejahung mit Hoffnungssymbolen und Memento mori, in dem der Tod eine Reise ist.

Mit diesem Sarg hat Martin Hudelmaier wesentliche Signale gegeben. „Der Sarg sollte eine Äußerung des Ichs, unserer Persönlichkeit sein – eine Haltung, die die Individualität des Menschen widerspiegelt (…). Zwischen Geburt und Tod bestehen geheimnisvolle kosmische Zusammenhänge. Jeder Mensch hat einigemale im Verlauf seines diesseitigen Lebens kosmische Aspekte, die symbolisch als Hinweis für den Tod aufzufassen sind. (…) Mit dem Horoskop gibt uns das Schicksal schon die Größe zu einem Rahmen, zu einem Bild, das wir aber selbst malen können.“ Der letzte Satz ist der wesentliche: Die Bilder von Martin Hudelmaier sind Lebensbilder, Darstellungen, Entwürfe und Deutungen von Leben, das nicht nur durch die Sternenkonstellation der Geburt geprägt ist, sondern das es zu malen, das heißt zu entwerfen gilt. Das ist die Quintessenz der Kunst, der Bilder von Martin Hudelmaier seit 1972.