Überall ist Wunderland
—Ricarda Geib, Plüderhausen, September 2009
Die Arbeiten Martin Hudelmaiers sind Ausdruck einer Versenkung in eine phantastisch sich gebende und immer erzählerisch bleibende Bildwelt. Das Frühwerk mit freizügig ungehemmter peinture in den späten 60-er und frühen 70-er Jahren markiert einen Höhepunkt der nachhaltigen Suche des Künstlers nach einer individuellen Bildsprache, nach ästhetischer Selbstständigkeit. Die sorgsam umschlossenen Formen, die volltönende Palette seiner metaphysisch - astrologischen „Portraits“ der 70-er Jahre beschreiben eine neue Dimension seines künstlerischen Schaffens.
Seine frühen Gemälde prägt ein sattes Spektrum bunter Farben, die Farbe scheint zu lodern, zu brodeln, zieht in unauslotbare Tiefen und bringt phantastische Gebilde – „eine Frau in Trance“, „Tänzer“ oder „Personen mit Sternen“ – zum Schweben; eine graphische Malerei, die aus dem frei gesetzten bildnerischen Mittel wie von selbst zu entstehen scheint, zwischen Raum und Fläche, Figuration und Mechanik, Groteske und Poesie changierend. Kraftvolle dunkle Gesten werden leuchtenden Farben entgegengeworfen und scheinen fast wie eine Metapher des schöpferischen Tuns. Spürbar ist das unmittelbar Erregende des spontanen Entwurfs. Einer flüchtigen Drehung des Handgelenks entsprungen, wirken die enigmatischen Formen wie elektrisiert – peinture sauvage. Es ist, als ob Martin Hudelmaier von einem imaginären Zentrum aus immer weiter Farben und Formen in den Bildraum triebe – ganz spielerisch und absichtslos – und erst im Kontext eine zwingende Komposition entstünde, in der fließende und zentrierende Kräfte gleichsam vibrierend wirksam sind. Die Feinnervigkeit seines Pinselstrichs lässt an rhytmisch musikalische Strukturen denken, die sich organisch mit der Melodie verbinden. Changierend zwischen Ruhe und Bewegung, dehnt oder verengt sich die Farbe. Reibung, Hitze, Spannung entstehen. Rinnende Zeit, eigentlich ein Charakteristikum der Musik, wird bildhaft. Fragiles, kostbares Zeugnis seiner musikalischen Sensibilität ist die „Kleine Komposition in Blau“. Das Blatt – ein federleicht schwebender Graphismus – gleicht einer minimalistischen Partitur.
Von unverhohlener Direktheit sind Hudelmaiers prägnante Darstellungsmodi der zweiten Werkperiode, das Jahr 1972 markiert eine Zäsur in seinem künstlerischen Schaffen. Er beschränkt sich nun auf gegenständliche Motive – lesbare Symbole, Symbole, die einen in Schwung halten! – und bedient sich hierzu einer äußerst eingängigen Bildsprache. Die iconhaft verdichteten Figuren werden von schwarzen Linien umschlossen und mit kräftigen Farben belebt. Seine Motive sind nun Lebensmeer und Lebensbaum, Sonne, Schiff und Regenbogen, Tigerkatze und Südseepapagei. Martin Hudelmaier war – so scheint es – eine nonkonformistische Persönlichkeit, antiakademisch und antielitär, ein hellwacher Mensch und Maler. Die Wirklichkeitsbereiche, die er fast visionär miteinander verknüpfte, bezeichnen das Spannungsfeld zwischen äußerer Realität und innerer Welt – Welt der Wünsche, Ängste, Träume und Visionen. Mit verbildlichten Gegenentwürfen zur sogenannten Wirklichkeit verweisen sie auf die Fraglichkeit all dessen, was ist und auf eine Sehnsucht nach dem, was sein könnte.
Doch auch ein satirischer Anklang floss in sein Schaffen ein: „Käthchen“. Man könnte meinen, er ironisiere mit leisem, liebevollem Spott die moderne Frau, sexuell offensiv, selbstbewusst und aufreizend, doch ihrer Individualität beraubt. Es ist die plastische Schilderung einer erotischen Stereotype – der Frau als Objekt männlicher Phantasie, allgegenwärtig, verfügbar. Hudelmaiers „Portraits“ zeigen mitunter Köpfe im Profil, große rote Häupter, oft die ganze Bildfläche beherrschend. Der Blick dieser Köpfe ist ihr zentrales Organ. Es sind große, hart an die Stirn vorgerückte Augen mit undurchdringlichen Blicken. Augen sind das Fenster der Seele. Das Sehen ist ein Zugang zum Leib. Manche Blicke glaubt man zu spüren. Hudelmaiers Modelle blicken in die Ferne.
Hudelmaier fertigte Portraits, die die vielschichtigen Beziehungen der Person zur kosmischen Welt in klaren Symbolen oder kurzen, aphoristischen Texten erhellen. Changierend zwischen Offenbaren und Verbergen schuf Hudelmeier mit seinen Astroportraits ein neues Genre. Der Künstler portraitierte Menschen, Städte, Schiffe : die schwebende Aura vornehmer Morbidität kennzeichnet das „Portrait“ der Titanic. Captain Smith’s kalte Augen in aufrechtem, aber glühend rotem Kopf, korrespondieren schicksalshaft mit dem Blau des Meeres und einer kleinen blauen Träne an seiner gelben Krawatte. Hudelmaier war ein Einzelgänger in der Kunstwelt der 70-er Jahre. Er glaubte – seit seiner Kindheit mit den Sternzeichen und ihrer Deutung vertraut – an die Magie der Elemente und Sterne und schien von der Relevanz der alten Mythen überzeugt. Der nächtliche Sternenhimmel war vermutlich das älteste Bild, das die Menschheit betrachtet hat – die kosmische Ordnung, in unerreichbarer Ferne. Sie stellt der Vergänglichkeit unserer Welt den steten Glanz des Himmels entgegen. Die Bewegung verleiht den Sternen den Anschein von Lebendigkeit und so sah man in ihnen höhere Wesen, die ihre Bahnen über den Himmel zogen.
Persönlichkeit – so C.G. Jung – ist der unentdeckte Weg in uns, den die chinesische Philosophie mit einem Wassserlauf vergleicht, der unerbittlich sich zu seinem Ziel bewegt. Jeder Mensch ist folglich eine unfertige Persönlichkeit mit der Chance zur Vollendung. In der Astrologie spiegelt sich dieser Entwicklungsprozess im Tierkreislauf und in den Planetenbewegungen. In bestimmten Zeitabschnitten des Lebens, so scheint es, werden keimhaft vorhandene Persönlichkeitsanteile herausgefordert und erhalten eine Chance auf Entwicklung. In seinem Kasettenwerk, der Box „Die zwölf Häuser“, die, wie manche meinen, einer geöffneten Büchse der Pandora gleicht, gibt Hudelmaier der Astrologie frischen Wind und zeigt zwölf Häuser, zwölf Wünsche, zwölf Hoffnungen in strahlenden Farben.
Im Alter von neun Jahren verlor Hudelmaier seinen Vater. Er starb an den Folgen eines Motorradunfalls. In „Der Tod des Vaters“, einem kleinen Blatt, sieht man unter einem DKW mit brennendem Licht den Sturz des Vaters. Das Kind sitzt im Matrosenanzug auf dem Rücksitz und greift nach einem Regenbogen, dessen spektrale Farben das ganze Bild bestimmen.
Die Professionalisierung im Umgang mit dem Tod ist ein Merkmal unserer Zeit. Alles, was mit toten Körpern zu tun hat, wandert in die Dienstleistungsbetriebe des Bestattungsgewerbes. Hier sucht man vergeblich nach einem letzten Freiraum für Phantasie. Die meisten von uns werden in Särgen von gründerzeitlicher Schwere zu Grabe getragen. Der Tod ist ein marginalisiertes, erschreckendes, doch jeden betreffendes Thema.
„Der Tod hält mich wach“, bemerkte einst Joseph Beuys. Früher, so glaubt man, gestaltete sich das Warten auf den Tod mit kunstvollen Darstellungen zur „ars morienda“ (Anleitung zum guten Sterben) erträglicher. Verliert der Tod und das Sterben tatsächlich angesichts „heiterer“ Särge seinen Schrecken? Martin Hudelmaier hat sich zeitlebens mit den letzten Dingen beschäftigt. Die Vorstellung des Todes lässt seine schöpferische Energie nicht erlahmen, sondern stachelt sie an. Mit fast rebellischer Furchtlosigkeit, so scheint es, bietet Hudelmaier dem abstrakten Gedanken „Tod“ im Genuss des schönen Lebens die Stirn. Der eigene Sarg hat den Rang eines Schlüsselwerks, in dem Hudelmeier, ob nun bewusst oder unbeabsichtigt, eine Art Metabild über seine Wahrnehmung von Kunst und Leben schuf. „Jeder Sarg sollte eine Äußerung unseres Ichs, unserer Persönlichkeit sein“ – forderte der Künstler. Lichte Blautöne und seitlich eingelassene Bullaugen nehmen dem Sarg, den er 1979 in Bonn einer interessierten Öffentlichkeit präsentierte, jede Schwere. Hudelmeier zeigt sich auf seiner letzten Reise als junger Mann, ungezwungen und lächelnd, unter den Palmen der Südsee. Die Szenerie verleiht dem Sarg etwas Fröhliches, das aber im gleichen Atemzug schmerzt. Denn die kräftigen Farben erinnern unweigerlich an die Freuden der diesseitigen Lebendigkeit, die mit dem Tod, so steht zu fürchten, ausgelöscht sein werden. Kurz vor dem eigenen Sarg entstanden herrlich respektlose Blätter wie „Über geringen Bartwuchs“ oder „Über Brustkrankheit“, wo sich die Brustknospe einer lasziv lächelnden Rothaarigen neugierig an den vorderen Bildrand schiebt und die Stimmigkeit ihres Horoskops in Frage zu stellen scheint.
„...zum sympathischen Preis von einer Mark dreißig, überall ist Wunderland“ – Hudelmaiers Bildtitel verweisen nicht auf die üblichen Verlegenheiten der Moderne (Gemälde „o.T.“), sondern sind Akte freien poetischen Erkennens. Er liebte das Wort um seiner selbst willen bis zur lyrischen Sinnentstellung.
Das phantasievoll Heitere liegt nahe beim Abgründigen. Hudelmaiers metaphorisches Spiel enthüllt Mäander einer zutiefst poetischen Phantasie. Immer wieder hat Martin Hudelmaier auf die spirituelle Dimension künstlerischer Schöpfung hingewiesen. Poetische Bildprozesse bringen Ungesehenes, Verborgenes, Erahntes zur Erscheinung.
In dem 1966 erschienenen Roman „Il serpente“ (Die Schlange) schrieb Luigi Malerba:
„Ich sah mich um. Niemand war da. Jetzt fliegst Du, sagte ich mir. Ich war sicher, fliegen zu können. Die Luft war weich wie ein Federbett. Ich war leicht, als zögen unsichtbare Fäden mich in die Höhe. Ich fühlte die Gewissheit, mich in der Luft bewegen zu können, frei wie ein Vogel.“